Rückblick auf 2021
2021 vergrößerte sich die Distanz zwischen Deutschland und Osteuropa. Die Pandemie war nicht der einzige Grund dafür. Die autoritären Regierungen von Belarus und Russland beschlossen, die Reste der Demokratie zu beseitigen und starteten einen beispiellosen Angriff auf die Zivilgesellschaft und die Medien. Die zynische Überführung von Flüchtlingen an die polnische Grenze und die drohende militärische Invasion der Ukraine verschärften die Krise und machten erneut deutlich, dass die Außenpolitik gegenüber Osteuropa dringend überdacht werden muss. In diesem Neujahrs-Newsletter möchten wir berichten, wie die Zivilgesellschaft in diesem Jahr auf die Herausforderungen reagiert hat und welche Perspektiven uns im Jahr 2022 erwarten.

Der Kreml hat im Frühjahr drei weitere deutsche NGOs als „unerwünscht“ eingestuft und auch uns haben im Herbst russische Trolls wegen des Engagements für Menschenrechte und Pressefreiheit in einem propagandistischen Schreiben gedroht. Die Inhaftierung Alexej Nawalnys nach seiner Rückkehr aus Deutschland und eine massive Repressionswelle gegen Opposition und Medien deuten auf eine klare Richtung hin: Wladimir Putin bekämpft mit allen Mitteln die Demokratiebewegung und will seine Autokratie weiter ausbauen. Die Kirsche auf der Torte war die Schließung von Memorial. Trotz Einschränkungen aufgrund der Pandemie verlassen immer mehr Journalist*innen, Bürgerrechtler*innen und hochqualifizierte Kräfte das Land. So sind laut einer Studie von Takie Dela die eigene Sicherheit und die politische Lage in Russland unter den wichtigsten Gründen für Auswanderung.

Viele haben auch Belarus nach den Festnahmen Zehntausender und der brutalen Polizeigewalt nach den Protesten 2020 verlassen. Im Zuge der starken Repressionen wurden zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen verboten, deren Mitarbeitende sich in großer Gefahr befinden. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt 906 Personen als politische Gefangene in Belarus, darunter viele ihrer eigenen Mitglieder. Trotz heftiger Kritik aus der Zivilgesellschaft und aus dem Ausland tritt Alexander Lukaschenko nicht zurück und rächt sich an der EU mit menschenverachtenden Methoden, indem Geflüchtete aus dem Nahen Osten an die EU-Außengrenzen gedrängt werden.

Die Ukraine befindet sich unter der ständigen Bedrohung durch russische Truppen, die zuletzt verstärkt an der Ostgrenze des Landes stationiert wurden. Die Annäherung des Landes an die EU war auch Thema beim jüngsten Gipfeltreffen der EU mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft, bei dem die Staats- und Regierungschefs mit Ausnahme von Belarus weitere Ziele für die kommenden Jahre beschlossen.

Kann die neue Bundesregierung zur nachhaltigen Lösung der Konflikte in der Ukraine, im Südkaukasus und an der belarusisch-polnischen Grenze beitragen? Solidarität ist wichtig, aber nicht ausreichend, wenn Journalist*innen ihr Land verlassen müssen und Unterstützung beim Aufbau neuer Projekte brauchen.

Schon 2020 haben wir unsere Arbeit pandemiebedingt verändert und 2021 haben wir Austauschprogramme gekürzt oder in andere Länder verschoben. Wegen der ungewissen Aussichten und dem großem Aufwand bei der Planung von Großveranstaltungen haben wir das Red Square Festival eingefroren. Stattdessen arbeiteten wir an der Entwicklung neuer Konzepte für innovative Bildungs- und Förderangebote, wir setzten diverse Online-Formate um und veranstalteten einige kleinere Ausstellungen, Kunstresidenzen, Workshops und Studienreisen vor Ort, in Russland und in der Ukraine – dazu unten mehr.

An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Partnerorganisationen, Teilnehmenden, Expert*innen sowie bei Kolleginnen und Kollegen für die hervorragende Zusammenarbeit in diesen schwierigen Zeiten herzlich bedanken. Wir wünschen Euch einen guten Rutsch und alles Gute für 2022!
Team Dekabristen
Feminist Translocalities
Die Länder der ehemaligen UdSSR werden selten im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus analysiert und erscheinen als „rassenlos“. Man hört oft Argumente über die Unmöglichkeit, die amerikanischen Erfahrungen auf lokalen Boden zu übertragen. Selbst in Aktivist*innenkreisen wird erst in letzter Zeit über Rassismus diskutiert, sodass es noch keinen Konsens darüber gibt, welche Konzepte eine Rolle spielen sollen. 16 Days Against Racism ist eine Online-Aktion mit Interviews, die zeigen, dass Rassismus auch in den Ländern der ehemaligen UdSSR existiert und dass alle Arten von Gewalt miteinander verbunden sind. Basierend auf Interviews mit nicht-weißen Menschen und weißen Verbündeten haben wir eine Reihe von Beiträgen zu verschiedenen Aspekten der Manifestation von Rassismus und Kolonialismus erstellt.

Mehr über die Kampagne sowie über die Ausstellungen, Publikationen und Podcasts auf der Projektseite.
Reimagine Your City!
Wie das Projekt junge Menschen bewegt, ihren Kiez neu zu denken und zu visualisieren
Durch Dokumentartheater, Audiowalks, und weitere Multimedia-Projekte lernten Jugendarbeiter*innen und Aktivist*innen aus der Ukraine und Russland urbane Räume und ihre eigenen Städte kennen. Sie nahmen am internationalen Austauschprojekt Reimagine your city! teil. In Design Labs haben sie sich zu Diskursen über lokale Identitäten in den Partnerländern ausgetauscht und dann eigene Ideen entwickelt und gepitcht. Die besten Projekte wurden finanziell unterstützt, wie ein Audiospaziergang in Bila Zerkwa (Ukraine), ein (Maga)Zine zu einem Bezirk in Krasnoyarsk (Russland) und ein Hof in einem Familienzentrum sowie ein Freizeitraum in einer lokalen Bibliothek in Zelenogorsk (Russland), die zusammen mit den Jugendlichen gestaltet wurden.
Am Ende wurden die Toolkits für die Visualisierung von urbanen Räumen auf der digitalen Plattform Reimagine your city! veröffentlicht und im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen von den beteiligten Jugendarbeiter*innen und Expert*innen vorgestellt und diskutiert.
Citizen+ Plattform für politische Bildung
Kann Digitalisierung zur Demokratieförderung beitragen?
© Maria Feshchenko
Seit der Veröffentlichung des Online-Kurses Citizen+ in 2020 haben sich Hunderte junger Menschen aus Russland und der Ukraine mit Demokratie, Medien und Desinformation online beschäftigt. Die Gewinner*innen des abschließenden Essay-Wettbewerbs nahmen bei einer Studienreise nach Berlin im Dezember 2021 an Workshops zu Medien und politischer Bildung teil und trafen sich mit Mitgliedern von NGOs. Bei mehreren Führungen zur deutschen Geschichte diskutierten die Teilnehmenden über Erinnerung und Gedenken, aber auch über aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen und die eigene politische Partizipation. So resümierte eine Teilnehmerin:

„Für mich geht es bei politischer Bildung nicht darum, zu wissen, was Politik ist und welche politischen Ideen existieren, sondern um kritisches Denken, darum, Fragen zu stellen. Ich denke, je stärker die Fragen sind, die wir haben, desto besser. Für mich geht es dabei auch um gute Diskussionen. Und um unsere Entscheidungen im Alltag (...). Selbst die Entscheidung eines Einzelnen kann etwas bewirken.“ (Antonina, 19)
Ergänzend zum bestehenden Online-Kurses zu Demokratie und Medienkompetenz auf Russisch und Ukrainisch wurden ein neuer Kurs sowie zusätzliche Module zu Bürgerrechten, kritischem Denken und Verschwörungstheorien in Russland, der Ukraine und Deutschland entwickelt. Die neuen Kurse mit Animationen, Podcasts und Quiz werden auf der internationalen Bildungsplattform Udemy, der russischen Plattform Stepik sowie von den Partner*innen NEED (Kyjiw), Bumaga (St.Petersburg) und Flying University (Minsk) veröffentlicht.
Im Jüdischen Museum Berlin © Antonina Andriichuk
Sustainable Development Goals
Monitoring, Advocacy, Toolkits und Ausbau von Koalitionen für SDGs
Wie kann der Ausbau erneuerbarer Energien zur Sicherheit und Unabhängigkeit beitragen (SDG 7)? Können innovative Projekte und Sozialunternehmen Ungleichheiten reduzieren und inklusive Gesellschaften fördern (SDG 10)? Wie können Wälder geschützt und aufgeforstet werden (SDG 15)? Mit welchen Maßnahmen lässt sich nachhaltiger Konsum fördern (SDG 12)? Und können Sozialunternehmer*innen zur Implementierung von SDGs durch inklusive und nachhaltige Konzepte beitragen?

Mit diesen Fragen beschäftigten sich Expert*innen, Sozialunternehmer*innen und Aktivist*innen aus Belarus, Deutschland, Moldau, Russland und der Ukraine zunächst in Online-Workshops und anschließend im – mit unseren Partner*innen entwickelten – Accelerator-Programm Partnerships for the Goals!. Dabei erhielten zehn Projekte in 2020 und 15 Projekte in 2021 Unterstützung für Informations- und Advocacy-Kampagnen im Rahmen der Global Week to Act for SDGs der Vereinten Nationen im September 2020 und 2021. In Webinaren und bei einer Studienreise nach Berlin tauschten wir uns außerdem mit der Stephanus-Stiftung und mit dem NABU über Hilfs- und Arbeitsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen und über internationale Naturschutzprojekte aus.

Parallel zum Accelerator-Programm wurden die SDG-Netzwerke und -Koalitionen vertieft, indem mehrere Online-Trainings und Beratungstreffen mit den Mitgliedern der Partnerschaftsgruppe für SDGs in Belarus, dem Netzwerk für SDGs bei EcoVisio in Moldau, der Koalition für nachhaltige Entwicklung in Russland (KURS) sowie dem Forum Umwelt und Entwicklung, als Teil des deutschen Netzwerkes für SDGs, statt. Nachdem bereits in 2020 der erste vollständige sog. Shadow Report (unabhängiger zivilgesellschaftlicher Bericht) zu allen 17 SDGs in Russland vorgestellt wurde, wurden auch die ersten Shadow Reports in Belarus zu SDG 12 (Nachhaltiger Konsum & Produktion) und in Moldau zu den SDGs 7 (Saubere und günstige Energie) und 13 (Klimaschutz) veröffentlicht. Die Berichte sind online auf der SOIN-Website zu finden.

In einem neuen Projekt entwickelten unsere Kolleg*innen von der Koalition für nachhaltige Entwicklung in Russland und Civic Watch ein Toolkit, um die Fortschritte bei SDG 16 Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen erstmals anhand von messbaren Indikatoren zu bewerten.
Publikation Eastern Block Stories
Visualizing Large Housing Estates from Post-Socialist Cities
Die Publikation Eastern Block Stories enthält ein Dutzend Texte, Geschichten und Studien und zeigt über 60 einzigartige, handverlesene Fotografien von Massenwohnsiedlungen in den postsozialistischen Ländern Osteuropas. Es möchte sich der blinden Flecken widmen, die großen Herausforderungen für die postsozialistischen Plattenbausiedlungen heute genauer beleuchten und Visionen ihrer Zukunft entwerfen.

Das Buch bietet einen authentischen Einblick in die urbane Kultur von Tiflis bis Sarinsk. Den Südkaukasus und den Altai abdeckend, sind darunter Werke der Fotograf*innen Jan Chudozilov, Irina Murinskaya, Lara Koncar, Mikolaj Kaleta, Nataliia Sova, Marco Fieber, Sergei Poletaev, Ilyas Hajji, Semen Antonov, Monica Consonni, Pavel Fedorov, Evgeniia Savdeeva, Serge Poliakov und Tom Bond.

Anlässlich der Herausgabe des Buches luden die Herausgeberin Tinatin Gurgenidze und Dr. Philipp Meuser vom Verlag DOM publishers im November 2021 zur Buchpräsentation und Diskussion.

Das Buch (inkl. Versand) ist gegen eine Spende erhältlich. Kontaktieren Sie uns hierfür bitte unter: info@dekabristen.org
Stellenausschreibung
Ab sofort suchen wir Finanzmanager*in und Assistenz der Geschäftsführung